"Bewegungs-Raum"

Text über Bewegung
Vorum Fachzeitschrift für Gemeinde- und Regionalentwicklung in Vorarlberg
12.12.2007

Beweglichkeit bedeutet Raum, Lebensraum

Bewegung als elementares Bedürfnis
Der Blick auf den sich zum Horizont erstreckenden Weg zählt vermutlich zu den ältesten Bildern im kollektiven Gedächtnis der Menschheit. Seit sich Gesellschaften auf die Jagd begaben, seit dem sie sich zu nomadischen Kollektiven organisierten und seitdem sie begannen Handel zu treiben, ist die befreiende Erfahrung der Bewegung, das Bild des Aufbruch und der Reise als Archetyp ihrem Unterbewusstsein eingeschrieben. Die vom Ort erlösende Fähigkeit zur Fort-Bewegung, die Erweiterung des Handlungsradius oder auch die kollektive Erschließung von neuen Ressourcen waren verknüpft mit entscheidenden zivilisatorischen Entwicklungsschritten. Beweglichkeit bedeutete Raum, Lebensraum.

Beschleunigung als Mythos
Die Neuzeit hat schließlich eine irreversible Erschließung des Globus in Gang gesetzt, die Aufklärung seine wissenschaftliche Systematisierung und die industrielle Revolution seine massenhafte und umfassende Nutzung.
Das 20. Jahrhundert war schließlich geprägt durch eine breite Aufwertung und Verklä-rung von Bewegung, erweitert durch Begriffe wie Dynamik, Mobilität, bzw. Flexibilität. „Was Rudolf von Arnheim als „Die Würde der Unbeweglichkeit“ an herkömmlicher Architektur beschrieben hat, fiel nun dem Imperativ des erleichterten Umzugs zum Opfer“ schreibt Peter Sloterdijk in seiner Kulturanalyse der „Schäume“ (Frankfurt 2004, S. 547). Ozeandampfer, Flugzeuge und Automobile wurden zu Ikonen der Moderne.
Nach einer ersten Welle der Modernismuskritik beginnend in den 1950er Jahren war auch die rasante Verbreitung und Etablierung von Informationstechnologien um die Jahrtausendwende ein neuerlicher Quantensprung, der bereits von deutlicher Gesell-schaftskritik an der zunehmenden „Beschleunigung“ des Alltag begleitet wurde. Bewe-gung und Geschwindigkeit wurden zu unmittelbaren Kriterien des Wettbewerbs von Soziäteten und Individuen, der die erreichten Grundwerte unserer Zivilisation wie Demokratie, Öffentlichkeit und die Solidargemeinschaft der westlichen Zivilgesellschaften zunehmend in Frage stellten.

Bewegung ist mehr als Zeitvertreib
Heute stehen wir vor einer komplexen und kontroversiellen Einschätzung von Bewe-gung und der von ihr erschlossenen Räumen.
Die Erfahrung von Bewegungsmöglichkeit erlebt der Mensch bis heute grundsätzlich positiv, als Gefühl der Autonomie und Handlungsfähigkeit. Bewegung ist unweigerlich mit psychischer Hygiene und kognitiver Entwicklung verknüpft. Schon im antiken Griechenland war das „Ergehen“ im überdachten Freien Teil der Erziehung zweier philosphischer Schulen. Die Peripatetiker – von peripatos: überdachter Weg – wurde von Aristoteles im Garten des Lyzeums in Athen gegründet. Aristoteles redete mit seinen Schülern im Gehen, ähnlich wie die Stoiker, deren Bezeichnung von der stoa – der Wandelhalle herrührt. (Bernhard Rudofsky, NY 1969, S.77)
Bewegung verbessert auch heute nachweislich die Lernfähigkeit von Kindern. Sich kör-perlich die Welt in allen Dimensionen zu erschließen bedeutet spielerisches Ausprobieren und Erlernen von sozialen Kompetenzen und eines Zusammenlebens. Bewegung ist oft schlichte Voraussetzung für die Teilnahme am sozialen Leben.

Eine Autobahn als neues Zentrum
An der umfassenden Bedeutung lässt sich auch die Tragweite mangelnder Beweglichkeit ermessen. Im fortgeschrittenen Stadium einer Kultur des Wachstums und der Beschleunigung wurden viele dieser Bewegungen durch Maschinen ersetzt, die selbst zur Bedingung wurden und in Abhängigkeiten versetzen. Die Rheintalautobahn verwandelt sich mehr und mehr zu einem neuen Versammlungsraum einer technisch beschleunigten Vorarlberger Gesellschaft, die sich vom Dornbirner Messepark bis zu den Parkplätzen der Montafoner Ski-Arenen zieht.

Nicht schnell genug.
Die „Unzulänglichen“, Kinder und Alte, körperlich Eingeschränkte und finanziell Unver-mögende werden zu Abhängigen oder Ausgeschlossenen eines rasenden Systems. In den Kindersitzen, auf dem Senioren-Adventure-Event, in Gletscherbahnen oder auf kreditfinanzierten Pauschalreisen finden sie sich wieder als geduldete Grenzgänger ihrer Möglichkeiten. Im Zeitalter einer allgemeinen zivilen Mobilmachung werden unter dem beschönigenden Titel der „Freizügigkeit“ im großen Stil Arbeitskräfte, Güter und Informationen in Bewegung und letztlich in Konfrontation versetzt. In der übermäßigen Ausdehnung wird der Bewegungs-Raum von der Möglichkeit zur Belastung. Ein Freundeskreis über 500km, ein Wohnort im Grünen oder auch nur eine Schulwahl im Nachbarort werden möglich, machen aber Bewegung und ein Fahrzeug zur Notwendigkeit

Entfernte, nicht Bewegte
Zugleich wird der Schwindel aller simulierten Bewegungen an den nur vermeintlich bewegten Körpern augenscheinlich. Fettleibigkeit, Abgestumpftheit und Burn-Out Symptome sind typische Reaktionen auf die Diskrepanzen zwischen dem Körper und einer (getäuschten) Wahrnehmung. Wenn sich nur mehr die Fernsehbilder und Windschutzscheiben bewegen, gibt es keine Muskel-Bewegung mehr, zu der wir unsere eilig zugeführten Kohlehydrate verbrennen können. Unsere Körper verarbeiten die Stresshormone nicht mehr zu Angriff oder Flucht. Die Resultate sind bekannt. Der Rückzug – vor allem unserer Kinder in Medienwelten untergräbt die Fähigkeit im Umgang mit realem Raum und sozialen Angeboten. Sie entwickeln wie Erwachsene verschiedenste Isolationsmechanismen, die die Angebote an Bewegungsräumen und öffentlichen Flächen verkümmern lassen.

Gleichberechtigung im öffentlichen Raum
Ist andererseits eine Gemeinschaft mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten noch leb-bar? Wollen wir noch auf die Langsameren warten? Leisten wir uns noch Öffentlichkeit und einen demokratischen Zugang zu technisch erschlossenen und zuletzt auch virtuellen Räumen? Eine wichtige Erkenntnis aus den Cyber-Euphorien der letzten Jahrzehnte ist, dass virtuelle Räume auch den Spielregeln öffentlicher Räume entsprechen müssen. Sie bedeuten eine Ergänzung, können aber keinesfalls reale Räume und die Bewegung in ihr ersetzen.
Deshalb darf das Angebot an Bewegungsräumen nicht aufgegeben werden. Die Strate-gien zur Überlagerung von Räumen mit verschiedenen Geschwindigkeiten sind bekannt: Netzwerke von Grünzügen, zusammenhängende, fußläufige Bereiche und Spielflächen oder auch verkehrsberuhigte Zonen sind Strategien, mit denen die Erfahrungen und Errungenschaften physischer Bewegung auch zwischen dem motorisierten Strassenverkehr zugänglich bleiben.
Bekennen wir uns zu den anfangs genannten Grundwerten und nehmen wir das Kon-zept Öffentlichkeit mit all ihren zivilisatorischen Qualitäten ernst! Eine wirkliche Emanzipation von Geschwindigkeiten ist eine Grundbedingung, um möglichst Vielen, auch den vermeintlich „Unzulänglichen“ die eigene Bewegung und ihre Selbstbestimmung zu ermöglichen.

Heike Schlauch, Bregenz 12.12.2007 6.730 Zeichen inkl. Leerz