„Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst!“

Essay über Wohnkooperativen für “Original” Nr.3, 2015

Von der Professionalisierung eines politischen Gedankens

Dieser Satz übertitelt einen Aufsatz des Philosophen Slavoj Zizek 1. Der Ausgangspunkt seines weit ausholenden Textes über eine schleichende, aber nachhaltige Veränderung von Gesellschaft ist die Diagnose, daß „der heutzutage vorherrschende Modus der Politik eine postpolitische Verwaltung von Interessen“ ist, die sich „von altem ideologischen Ballast“ befreit hat. Ein Nullpunkt der Politik mithilfe einer entpolitisierten Administration von Interessen.

Politik der Angst
Der einzige Weg, die Menschen zu mobilisieren, besteht darin, Angst zu schüren. Angst, als konstitutive Grundlage der heutigen Subjektivität. Angst vor Belästigung, Angst vor Gewalt. Eine Politik der Angst, in der „die liberale Toleranz von heute gegenüber dem Anderen, durch die obsessive Angst vor Belästigung konterkariert wird. Nachdem kollektive Konstruktionen, wie die Nationalstaaten des 19. Jahrhundert oder ideologische und geografische Gemeinschaften gerade zerfallen, werden sie weiter in globale Märkte zerschlagen, in denen Sicherheit, Identität und Zugehörigkeit individuell erkauft werden. Eine Politik der Angst , die sich auf die Vermeidung von Viktimisierung und Belästigung konzentriert, treibt uns an. Die Grenzen, die die Wohlständigen Europas heute umgeben, sind keine nationalen mehr. Sie sind selbst erkauft und werden möglichst eng und dicht um die Rückzugsräume jedes einzelnen Individuums gezogen.

Gegenkurs in die Gemeinschaft
Diese Überlegungen seien positioniert an den Beginn einer Gegenüberstellung. Zwei Wohnmodelle, die im zeitlichen Abstand von 30 Jahren realisiert wurden seien als Beispiele genommen für die Gegenreaktionen auf ihr politisches und gesellschaftliches Umfeld.
Eine gemeinschaftliche Reihenhausanlage im Eigenbau mit sechs Wohneinheiten als praktische und gesellschaftliche Experiment im Vorarlberg der 1980er Jahre und das genossenschaftliche Projekt Kalkbreite, das seit 2014 nach einem 7-jährigen, breit angelegten Planungs- und Partizipationsprozess rund 100 Wohneinheiten, mehr als 600 m2 Gemeinschaftsflächen und 4.800 m2 Gewerbe und Veranstaltungsflächen im Zentrum von Zürich bietet. Ein Stück Stadt, das von selbst organisierten Menschen entwickelt, finanziert und realisiert wurde. Beide stehen als erstaunliche Gegenmodelle in sehr individualistischen und eigentumsorientierten Kontexten. Beide richten sich mit einer kollektiven Idee und sehr pragmatischen Einzelbedürfnissen gegen das konventionelle Angebot des Marktes und damit gegen dessen gesellschaftlichen Imperativ, der Vereinzelung.

Das Toscana – Gefühl
1984 errang die politische Bewegung der Grünen erstmals historische 13% bei der Landtagswahl und emanzipierte sich schrittweise mit seinen Grundwerten der Ökologie und einer liberalen Gesellschaft. In diesem Jahr wurde im Vorarlberg Fussach von sechs Familien nach einhelliger Planung gemeinsam ein Wohnhaus in der flachen Riedlandschaft errichtet. Ein klassischer langgestreckter Baukörper, in erdigem Rosa gemalt strahlt mit seinem handwerklich ausgebildeten, flachen Dach und seinen Rundfenstern eine ganz ursprüngliche „Italianita“ aus. In der Tat seien eine gewisse Schwärmerei für toskanische Landschaften und auch die Vorbilder der italienischen Postmoderne Pate gestanden. Sechs zweigeschossige Reihenhäuser zeigten zur Straße eine relativ geschlossene Front, zum Garten wurden die gemeinsamen Terrassen auf zwei Ebenen von einem großflächigen Wintergarten umschlossen. Drei kleine Nebenbauten mit Gemeinschaftsräumen schlossen an diese Terrassen an. Dort waren gemeinschaftliche Nutzungen geplant. Ursprünglich sogar angedacht als Räume für eine kollektive Küche, ein Gemeinschaftsbad und die Kinderbetreuung. Planungs- und Bauprozess kannten die intensive Mitsprache der Bewohner. Diese radikale Idee milderte sich in der Planung ab zu gemeinsamer Kinderbetreuung, Abstellflächen und einer zusätzlichen Gemeinschaftsküche. Diese wurde als erstes errichtet und leistete während der Bauzeit gute Dienste. Fundament, gemauerter Rohbau und die Holzkonstruktion und die grundlegenden Installationen wurden von professionellen Handwerkern geleistet. Die folgenden Arbeiten wurden von den sechs Familien selbst im Laufe eines langen, einsatzreichen Jahres geleistet. Die Bauarbeiten wurden werktags nach der Arbeit und an allen Wochenenden gemeinsam weitergeführt. Fassade, Dach und der komplette Innenausbau wurden im Selbstbau realisiert.
Friedrich Achleitner erinnert sich: „Der Architekt verwendete noch brauchbare Teile (Innenfenster und Türen) von Abbruchhäusern und fügte sie lebendig zu einer Collage zusamen, die wie eine Erzählung aus einem früheren Leben wirkt. So konnte eine zunächst ökonomische Überlegung in eine kulturelle Botschaft verwandelt werden.“ 2

Was vom Experiment geblieben ist
Knappheit des Baugrunds und die hohen Kosten für den konventionellen Wohnbau scheinen sich wie ein roter Faden durch die Architekturgeschichte Vorarlbergs zu ziehen. Sowohl für die Bauherrn der Reihenhausanlagen von Hans Purin oder Rudolf Wäger in den 1960er und 70er Jahren, als auch bei den Selbstbauprojekten der cooperative waren wirtschaftliche Überlegungen mindest genauso bedeutsam, wie die Idee des gemeinschaftliche Wohnens. Beides jedoch hoch politisch, bedeutete doch das eigene Haus die soziale Eintrittskarte in die Gesellschaft. Für den hohen Anteil an Eigenleistungen bildete die handwerkliche Erfahrung des Planers und vor allem seine Begeisterungskraft und Geduld die Voraussetzung für die erfolgreiche Fertigstellung. Die nachfolgende Erschöpfung und das tägliche Leben hatten bald auch eine Erosion des gemeinschaftlichen Gedankens zur Folge. Nach zwei Jahren zog eine der Familien aus, die übrigen erlebten einen pragmatischen Wandel der Gemeinschaftsidee, der durch den Alterungsprozess der Familien und den Wandel der Bedürfnisse auch in anderen derartigen Wohnprojekten zu beobachten war. Heute lebt noch eine Bewohnerin aus der Bauzeit dort. Die Kinderspielräume sind heute Werkstatt und Waschküche. Das Gemeinschaftliche hat sich auf Übliches reduziert. Man kennt sich und trifft sich bei Gelegenheit auf einen Kaffee. Das Gebäude ist stark eingewachsen und strahlt nach verschiedenen Neuanstrichen und leichten Veränderungen immer noch einen eigenen Charme aus. Das mag als Qualität des Bauwerks gelten, denn die Veränderungen in der Nutzung hat es durch seine Wandlungsfähigkeit und gestalterische Unschärfe gut überstanden. Wenn heute diese Bauten als „gescheitert“ abqualifiziert werden, so schmeckt diese Häme schon sehr nach Ideologie, denn die Bauten selbst werden – wie auch die Anlage Nachgärtle – oft liebevoll gepflegt und überzeugen durch räumliche Qualitäten auch heute. Die sozialen Experimente des Zusammenlebens sind auch als solche zu betrachten und gehören mit zum Erfahrungsschatz einer längeren Entwicklung gemeinschaftlicher Wohnformen.

Lange Tradition des gemeinschaftlichen Wohnens
Architekt Wolfgang Juen hatte dazu entsprechende Erfahrungen bei den Projekten der „cooperative“ gesammelt. Ein Kollektiv, bestehend aus Dietmar Eberle, Wolfgang Juen, Norbert Mittersteiner und Markus Koch, das von 1978 bis zu seiner Auflösung 1982 eine Reihe von damals spektakulären Wohnbauten errichtet hatte. Zuvor hatten drei davon, teils als Studenten, teils als Angestellte an der Planung der Bregenzer Achsiedlung gearbeitet. Ein Projekt der 70er Jahre, die die Frage der Gemeinschaft auf technischem Wege lösen wollte und eine (für Vorarlberger Verhältnisse) Megastruktur für 1000 Menschen vorsah. Architektonisch bemerkenswert, leidet das Projekt bis heute als soziales Ghetto an der Weigerung der einstigen städtischen Bauherrn, die ursprünglich vorgesehene Infrastruktur und Nutzungsmischung umzusetzen. Die Ideen und Visionen dafür reichten noch einmal 10 Jahre zurück. Arch. Eckhard Schultze-Fielitz hatte in seinen urbanistischen Visionen, die im direkten Austausch mit der internationalen Architektur-Avantgarde der japanischen Metabolisten und dem kanadischen Theoretiker Iona Friedmann standen, technisch gestalterische Stadtutopien entwickelt. Dieser Rückgriff ist nicht unwesentlich, spannt er doch exemplarisch einen Bogen von der technischen Utopie, über das praktisch-gesellschaftliche Experiment, hin zum professionell organisierten Partizipationsprozess, der in Form einer Genossenschaft 62 Mill. Schweizer Franken managt.

Schweizer Präzision und die kollektive Natur der Stadt
Das Projekt Kalkbreite nahe dem Zürcher Hauptbahnhof steht dem gegenüber mit ungleich größeren Dimensionen und einer professionellen Struktur, die auf dem Erfahrungsschatz anderer Genossenschaften aufbaut. Immerhin war die Organisation so gut aufgestellt, daß sie in einem Wettbewerb der Stadt Zürich zuerst den Zuschlag für das Grundstück erhielt. Erst anschließend wurde ein internationaler Architekturwettbewerb ausgeschrieben, den das Büro Müller-Sigrist aus Zürich gewann. Die urbanistische Meisterleistung diese Gebäudeblocks war also schon in der Vorbereitung angelegt und gewann durch die Architektur Gestalt. Ein dreigeschossiger Gebäudesockel mit Gewerbe- und Kulturnutzungen integrierte eine bestehende Straßenbahnremise. Deren Dach wurde begrünt und bildet den Hof für die gemeinschaftlichen Einrichtungen der Wohnnutzung vom vierten bis zum achten Geschoss. Unterschiedliche Wohnformen werden angeboten, die auf typische neue Lebenswelten der Stadt reagieren: Wohncluster mit privaten Schlafbereichen und gemeinsamer Wohnlandschaft, mietbare „Joker“ (Zusatzräume) oder Wohnungen, die wie eine eigene kleine Stadt auf interne Wege mit hauseigenen Gemeinschaftsräumen bezogen sind. Eine „Rue Interieur“ , oder auch eine Frühstückspension und soziale Einrichtungen bilden eine öffentliche Infrastruktur, welche das Wohnen fliessend mit der Stadt verbindet. Eine umlaufende Landschaft an Dachterrassen bildet einen parkartigen Abschluss dieses Wohnkomplexes. Die Gemeinschaftsidee von 2014 kennt Möglichkeiten, keinen Zwang und hat dabei doch sehr genau mit betreuten Partizipationsprozessen auf die aktuellen Bedürfnisse gehört. Die Bilder des Projektes zeigen eine professionell gestaltete Welt des Gemeinschaftlichen und ernten das ausdrücklich überraschte Lob der Stadt Zürich. Stadtmenschen beweisen einen klaren Startvorteil im Umgang mit gemeinschaftlichen Lebensformen und liefern dabei auch wertvolle soziale Nischen und den fröhlichen Beweis, dass Gemeinschaft ein angestammt menschliches Bedürfnis ist und ein Konzept gegen Strategien der Angst.

Alternativen
Jenseits der schicken Farbgestaltung und Fassade und jenseits der Anerkennung in Architekturblogs und Fachmagazinen bleibt eine politische Dimension in beiden Projekten, die die Möglichkeit zu Alternativen kollektiv verankern. Alternativen, die als Gegenkonzept zu einem globalen Konsumismus und Entpolitisierung auftreten. Der Maßstab spielt für die politische Wirksamkeit keine Rolle. Vielleicht hat die Vorarlberger Wohnanlage die Genossenschaft in Zürich sogar darin überragt. Überragt hat auf jeden Fall die Kraft des Faktischen, der Realisierungen. Keine Selbstverständlichkeit, wenn man heute die Bedeutung von Stadt und Architektur oft hinter den virtuellen Welten verschwinden sieht.

Robert Fabach, Bregenz, 16.5.2015

1 Slavoj Zizek, Über die Gewalt – sechs abseitige Reflektionen, Hamburg 2010
2 Hrsg. Roland Gnaiger, Friedrich Achleitners Blick auf Österreichs Architektur nach 1945, Wien 2015

Wohnanlage Nachgärtle, Fussach

Foto: Robert Fabach

Nachgärtle

Nachgärtle

Nachgärtle

Nachgärtle

Kalkbreite

Kalkbreite

Kalkbreite

Kalkbreite

Adrian Villiger Houdini

Kalkbreite